Ist die Critical Mass eine soziale Bewegung?
Die Historikerin Nadine Zberg forscht zu urbanen Protesten und zur Erneuerung der Stadt. Wir haben sie gefragt, wie die Critical Mass im historischen Kontext einzuordnen ist.
Ist die Critical Mass eine soziale Bewegung oder bloss eine spassige Veloparty?
Nadine Zberg: Betrachtet man sie isoliert, erfüllt die Critical Mass die Kriterien für eine soziale Bewegung nicht. Es fehlt ein Verdichtungsmoment. Soziale Bewegungen durchlaufen verschiedene Phasen: Da gibt es eine Aufbauphase, in der man sich vernetzt. Die wird abgelöst von einer Intensivierungsphase, in der man auf ein bestimmtes Ziel hinarbeitet.
Oh, also doch bloss Party?
Nein, so ist es dann doch auch nicht. Man muss die Critical Mass in einem grösseren Zusammenhang sehen, in dem auch Fridays for Future und die Klimajugend vorkommen. Oder anders gesagt: Die Critical Mass ist Teil einer grösseren sozialen Bewegung.
Wie kommt es, dass die CM ausgerechnet in Zürich so gross geworden ist?
Das liegt vermutlich schon daran, dass in Zürich die Veloinfrastruktur im Vergleich zu anderen Städten unterdurchschnittlich entwickelt ist. Und dies trotz einer jahrzehntelangen rot-grünen Mehrheit in der Regierung. Da hat sich eine grosse Unzufriedenheit aufgestaut. Zudem gibt es in Zürich eine Protestkultur. Was sicher auch eine Rolle spielt, ist die Pandemie – und dass heute mehr Leute Velo fahren als noch vor zwei Jahren.
Erkennen Sie Parallelen zwischen der Critical Mass und den Jugendbewegungen der 80er-Jahre?
Elemente wie die direkte Intervention im öffentlichen Raum, das Fehlen einer Organisationsstruktur oder das Momentorientierte erinnern stark an jene Zeit. Die Neue Linke nach 68 versuchte nicht mehr, politische Aufbauarbeit in fixen Organisationsstrukturen für das Fernziel Revolution zu leisten, sondern wollte die Utopie im Hier und Jetzt.
Die Bewegten der 80er-Jahre forderten mehr Raum und Ressourcen für Jugendkultur. Heute fordert die Jugend mehr Raum auf der Strasse. Same same but different.
Genau. Damals und heute ist da das subversive Element. Früher traf man sich in grosser Anzahl im Park und fläzte sich auf die Wiese, wo sich normale Leute doch bloss auf die Parkbank setzten. So wird die herrschende Ordnung für einen Moment ausser Kraft gesetzt, und eine utopische Realität wird greifbar, natürlich zeitlich befristet. Aber das wirkt extrem provokativ – damals auf kultivierte Bürger, heute auf Autofahrende.
Gibt es auch Unterschiede?
Die Bewegung der 80er-Jahre war sicher militanter. Bei der Critical Mass blieb bisher eigentlich fast alles im erlaubten Rahmen.
Die Teilnehmenden der CM sprechen von sich selber als kritischen Einzelteilen. Manche von ihnen fordern explizit mehr Raum fürs Velo, bei anderen scheint der Spassfaktor im Vordergrund zu stehen. Wie war das in den 80er-Jahren?
Auch da gibt es Parallelen. Nach 68 hatten die Leute zunehmend genug davon, Marx und sein «Kapital» zu studieren. Politik sollte auch Spass machen – in der konservativen Gesellschaft damals war diese Haltung bereits subversiv und sorgte für Irritation. Umso mehr, da man sich weigerte, Delegierte zu ernennen, die sich mit ihrer Stimme in das politische System hätten einbringen können.
Hat die CM das Potenzial, die Stadt nachhaltig zu verändern?
Zur Zukunft kann ich als Historikerin berufsbedingt nicht so viel sagen.
Aber es gibt doch immer Dinge, die sich in der Geschichte wiederholen.
Ich bin einfach sehr gespannt, was sich verändern wird. Jetzt ist der Parkplatzkompromiss mal gefallen, und Tempo 30 soll ausgeweitet werden. Es ist also durchaus etwas in Bewegung gekommen. Aber in der föderalistischen Schweiz blockiert sich auch vieles gegenseitig, in diesem Fall vor allem der Kanton die Stadt.
Die 80er-Jahre haben auch im Kanton einiges bewegt: Heute hat doch fast jedes Kaff einen Jugendtreff.
Aber das liegt nicht nur an den Bewegten der 80er-Jahre. Breite gesellschaftliche Wandlungsprozesse sind ein Zusammenspiel vieler Faktoren.
Von was ist es abhängig, ob eine Bewegung etwas verändern kann oder sich irgendwann einfach wieder auflöst?
Es braucht Ausdauer. Und Irritation. Inzwischen wissen Autofahrende, dass es schwierig sein könnte, am letzten Freitagabend im Monat durch die Stadt zu fahren. Wenn die Aktivistinnen und Aktivisten mal ein anderes Datum wählen oder sonst Unerwartetes tun, bleibt die Aufmerksamkeit hoch. Und was sicher von Vorteil ist: Wie am Anfang erwähnt, ist die Critical Mass in ein grösseres Ganzes eingebettet, die Klimadiskussion hat die Politik inzwischen tatsächlich erreicht.
Können Sie den Behörden Tipps geben im Umgang mit den Revoluzzern?
Im Moment gehen sie ja sehr gelassen damit um.
Wofür die Regierung von manchen auch kritisiert wird.
Das macht die Critical Mass sicher sicherer. Es hat ja auch Eltern mit Kindern dabei. Wenn die Behörden repressiver sind, dann steigt auch das Gewaltpotenzial.
Zur Person
Nadine Zberg schreibt derzeit ihre Dissertation mit dem Titel «Die Neuerfindung der Stadt. Zürich, ca. 1965–1985» an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich. Bereits ihre Masterarbeit hat sie der Zürcher Jugendbewegung der 80er-Jahre gewidmet. Damit ist ihr Spezialgebiet die Geschichte sozialer Bewegungen und urbaner Proteste und die Stadtgeschichte. Die 34-Jährige lebt im Kreis 4 und fährt jeweils mit einem rosaroten Damenrennrad der Marke Peugeot an die Uni. Ihr Verkehrsmittel erster Wahl hat sie an der Velobörse auf dem Helvetiaplatz gekauft.
Die Geschichte der Critical Mass
Die erste Critical Mass fand 1992 in San Francisco statt. Die Aktionsform besteht darin, dass sich nicht motorisierte Verkehrsteilnehmende unorganisiert und zufällig treffen, um gemeinsam durch die jeweilige Stadt zu fahren. In Zürich findet seit Ende 2018 jeden letzten Freitag im Monat eine Critical Mass statt. Im Sommer 2019 wurden erstmals über 1000 Teilnehmende gezählt. Im letzten Mai sollen es gemäss dem Tages-Anzeiger beinahe 10 000 gewesen sein. Auf der Fan-Seite der Zürich Critical Mass heisst es auf die Frage «Ist die CM eine Party auf zwei Rädern?»: «Nein, die CM ist weder Party noch Demo, sondern Verkehr.» Es gebe keine offiziellen Ziele und Forderungen. Man fahre einfach Velo.
www.criticalmass-zh.ch
Der Verein Vélorution
Aus dem Umfeld der Critical Mass ist der Verein Vélorution entstanden, der unter anderem die Kidical Mass, die beliebten Velokinos oder gemeinsame Spazierfahrten aufs Land organisiert. Auf der Seite von Vélorution findet sich auch die Petition «CarFreitag». Sie fordert, dass die Stadt Zürich jeweils am letzten Freitag im Monat für den motorisierten Individualverkehr gesperrt wird.
www.velorution.ch
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