Im Goldrausch
Was die Umsetzung des Masterplan Velo in Zürich betrifft, ist Pro Velo ja nicht wirklich zufrieden. Es gibt aber auch Bereiche, wo Zürich Vorbild für andere Städte und Gemeinden ist. Zum Beispiel die Schulinstruktion.
Jedes Zürcher Schulkind macht nach einer mehrstufigen Vorbereitung in der fünften Klasse die Veloprüfung.
Montag, 20. Juni, halb neun am Morgen: In der Verkehrsschulungsanlage Aubrugg VSA in Schwamendingen herrscht Hochbetrieb. Eine Schulklasse nach der anderen trifft ein und wird von freundlichen Polizisten eingewiesen. Kaum haben sind die Velos in Reih und Glied abgestellt, werden die Velos mit Startnummern, die Kinder mit Leuchtwesten ausgerüstet. Aufregung und Nervosität unter den Fünftklässlern sind gross. Offensichtlich nehmen die Kinder die Prüfung ernst, rekapitulieren noch einmal schnell, wie das mit dem Linksabbiegen schon wieder geht.
«Was passiert eigentlich, wenn man durch die Prüfung fällt? Darf ich dann nicht mehr ohne Eltern Velo fahren?», fragt mich ein Schüler. Doch, das dürfe er, versichere ich ihm. «Aber dann wirst du dänk von uns gedisst», lacht sein Klassenkamerad. Ein Mädchen fügt hinzu: «Und eine Goldmedaille kriegst du auch nicht. Dann bist du ein Loser.» Nachdem das geklärt ist und somit die Konsequenzen eines Durchfallens bei der Prüfung klar sind, reiht sich die ganze Klasse für den Velocheck auf. Zwei Polizisten prüfen minutiös die Velos auf ihre Strassentauglichkeit. Bremsen, Reflektoren, Glocke, Leuchtpedalen, Bereifung: alles wird genau getestet. Felt die Glocke, wird auf der Startnummer das entsprechende Feld mit einer Lochzange geknipst und die Goldmedaille ist schon flöten. Denn um die begehrte Auszeichnung zu erhalten, muss das Velo tipptopp in Ordnung sein und der anschliessende Verkehrsparcours fehlerfrei absolviert werden. Mit einem Fehler oder Mangel reicht es gerade noch für eine Silbermedaille, mit zwei gibts nur noch eine Bronzene.
Stoppsignal ist Stoppsignal
Eines nach dem anderen fahren die Kinder die dreissig Meter bis zum Start des Parcours. Und dann geht es los. Unter den aufmunternden Zurufen der Klassenkameraden fahren sie los – und müssen schon nach zwanzig Metern an einem Stoppsignal halten. Auf der vortrittsberechtigten Strasse quer durch die VSA fährt zwar kaum jemals jemand durch, aber Stoppsignal ist Stoppsignal, also wird auch gestoppt. Auf einem relativ langen Parcours kreuz und quer durch Schwamendingen zeigen die Kinder, was sie in der Verkehrsschulung gelernt haben. Einer der Höhepunkte und von der Komplexität mit Sicherheit die anspruchsvollste Situation ist das Linksabbiegen auf der Wallisellerstrasse. Wer Glück hat, trifft kaum Verkehr an, die anderen müssen dem entgegenkommenden Bus den Vortritt gewähren oder zwischen dem Verkehr einspuren und die Spur auch halten. Viele machen einen unsicheren Eindruck, was wenig verwunderlich ist, wenn man mitten auf der Strasse steht oder fährt und links und rechts Autos, Busse und Lastwagen durchfahren.
Die Lochzange ist gefürchtet
Immer wieder sieht man Kinder, die noch einmal Handzeichen geben, obwohl sie längst eingespurt sind. Das wird von den Verkehrsinstruktoren zwar nicht mehr so gelehrt, ist aber trotzdem kein Fehler. «Auch wenn es häufig besser wäre, sie liessen die Hand am Lenker, anstatt noch einmal ein Zeichen zu geben», wie der Polizist trocken meint, der die zum Teil etwas wackligen Prüflinge beobachtet und bei Bedarf direkt nach dem Linksabbiegen zur Seite nimmt. Den meisten gibt er nur Tipps, wie sie etwas noch besser machen können, aber ab und zu muss er auch schweren Herzens die Lochzange zur Hand nehmen.
«Wie vill Fehler häsch?»
Zurück in der Verkehrsschulungsanlage ist der Lärmpegel unterdessen deutlich gestiegen. Jeder Schüler und jede Schülerin, die vom Parcours zurückkehrt, wird von einem vielstimmigen Chor mit «wie vill Fehler häsch?» und – je nach Antwort – lautem Jubeln oder enttäuschtem «ou nei!» begrüsst. Erste, noch unvollständige Medaillenspiegel werden ad hoc erstellt und mit der Parallelklasse verglichen, während die letzten Gschpänli noch auf der Rundstrecke sind. Schliesslich schwenken geschätzte vier Fünftel der Kinder eine Goldmedaille in die Kamera, die meisten anderen haben wenigstens eine Silberne und alle sind mehr oder weniger stolz und glücklich.
Auch Patrick Stangl, einer der zuständigen Verkehrsinstruktoren der Stadtpolizei Zürich, ist zufrieden. 340 Schüler und Schülerinnen aus dem Schulkreis Schwamendingen absolvierten an diesem Tag die Veloprüfung. In den nächsten zwei Wochen werden weitere 2500 5.-KlässlerInnen die Prüfung machen. Ein Grossteil von ihnen mit der Bestnote, was noch vor wenigen Jahren völlig anders war. Damals fand die Veloprüfung noch am schulfreien Samstag statt, war also freiwillig. Entsprechend wurde die Beteiligung von Jahr zu Jahr kleiner, die Erfolgsquote ebenfalls. Seither wurde das Steuer erfolgreich herumgerissen: Die Prüfung findet während der Unterrichtszeiten statt, die Ausbildung intensiviert und unterdessen existieren bereits in fünf Schulkreisen fix signalisierte Prüfungsrouten. Das zeigt nun gute Resultate, und die sind dringend nötig, soll dem Veloverkehr nicht irgendwann der Nachwuchs ausgehen.
Die Schulinstruktion in Zürich
Kindergarten (zu Fuss): Zwei Besuche pro Jahr. Ziel ist die Selbständigkeit auf dem Schulweg
1. und 2. Klasse (zu Fuss): Anspruchsvolle Querungen (Hauptstrassen, Tramvortritt), Einschätzen von komplexeren Situationen
3. Klasse (Velo): Praktische Veloschulung im Schonraum
4. Schuljahr (Velo): Sicheres Fahren auf der Strasse (Blick zurück, einhändig fahren, Tempokontrolle)
5. Klasse (Velo): Praktische Veloschulung im Quartier, Linksabbiegen. Veloprüfung.
6. – 8. Klasse: Verkehrssinbildung, Gefahren erkennen
9. Klasse: Verkehrssicherheit, Auswirkung von Alkohol auf die Fahrfähigkeit