Die CM geht in die nächste Runde
Die Bewegung rund um die CM wird nicht einfach sterben.
Der Entscheid des Statthalteramts zur Critical Mass wird der Bewegung nicht den Garaus machen können. Denn das generelle Unwohlsein ist einfach zu gross – und die Infrastruktur zu schlecht.
Wer am letzten Freitagabend im Monat in Zürich aufs Velo steigt, muss mit einer Verzeigung rechnen. Dass dem so ist, hat Zürich zwei Vertretern der FDP zu verdanken, die beim Statthalteramt eine Aufsichtsbeschwerde eingereicht haben. In der Folge befand diese dem Stadtrat übergeordnete Instanz: Bei der Critical Mass handle es sich um eine Demonstration, die einen «gesteigerten Gemeingebrauch» mit sich bringe. Daher brauche die CM eine Bewilligung. Werde sie ohne eine solche durchgeführt, müsse die Stadtpolizei Massnahmen ergreifen.
Bedürfnisse völlig vernachlässigt
Die neue Ausgangslage wird der Bewegung nicht den Stecker ziehen. Denn dass die Critical Mass seit ihrer ersten Ausgabe in Zürich im Jahr 1997 so gross werden konnte, kommt nicht von ungefähr. Jahrzehntelang hat die Stadt die Bedürfnisse von Menschen auf Velos vernachlässigt. Und obwohl sie den Notstand inzwischen erkannt hat, dauert die Umsetzung einer velofreundlichen Infrastruktur einfach zu lange – etwa weil der Kanton bockt oder weil Autofans den Prozess mit Einsprachen blockieren.
Die CM im Juni 2021, als Velofahren noch nicht kriminalisiert wurde.
Credits: Sergej Klammer
Ein Ventil für die Angst
Und dann ist da der Faktor Klima: Der Juli 2023 war weltweit der heisseste Monat seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1880. Das sagt nicht die Grüne Partei, sondern die US-Klimabehörde NOAA. Auch die Ozeane waren in den ersten Monaten dieses Jahres im Durchschnitt so warm wie noch nie seit Beginn der Messungen in den Achtzigerjahren.
Es gibt eine zunehmende Zahl von Menschen, die sich richtig grosse Sorgen machen. Die Critical Mass ist neben der puren Freude am Velofahren auch Ausdruck eines generellen Unwohlsein in Zeiten des Klimawandels. Und dieses Gefühl wird nicht einfach weggehen. Im Gegenteil – es deutet alles darauf hin, dass es in den kommenden Jahren noch heftiger wird. Davon mögen gewisse Politikerinnen und Politiker mit destruktiven Taten ablenken wollen. Lösen werden sie die anstehenden Probleme damit nicht – im Gegenteil. Sie erreichen höchstens, dass sich die Bewegung radikalisiert.
In den 80er-Jahren haben sich Konservative darüber aufgeregt, dass Teenager Raum und Ressourcen für Jugendkultur einforderten. Zürich brannte. Heute empören sie sich, wenn Menschen auf Velos Raum im städtischen Verkehr beanspruchen. Kulturell hat Zürich inzwischen extrem viel zu bieten und niemand möchte mehr zurück in vergangene Zeiten. Beim Verkehr wird es dereinst genauso sein. Bis es so weit ist, werden die Velobewegten auf die Strasse gehen – mit und ohne Bewilligung.
Die Historikerin Nadine Zberg forscht zu urbanen Protesten und zur Erneuerung der Stadt. Wir haben sie gefragt, wie die Critical Mass im historischen Kontext einzuordnen ist – zum Interview.
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