«Schwerer Verkehrsunfall im Kreis 4 fordert ein Todesopfer»
Cycling Science – Wissenschaft für Velofahrende
Sprache beeinflusst unser Denken. Darum ist es wichtig, wie Unfallmeldungen formuliert werden – und dass wir die Formulierungen kritisch hinterfragen.
Der Titel dieser Kolumne war die Überschrift einer Medienmitteilung der Stadtpolizei Zürich. Natürlich ist die Velofahrerin nicht gestorben, weil «ein Unfall ihren Tod gefordert» hätte. Die Wahrheit ist: Ein Mann in einem Betonmischer hatte die 25-Jährige überfahren. Nur: Ist es richtig, zu so drastischen Worten zu greifen?
Die Sprache ist voller Formulierungen, die einen Verkehrstoten als unvermeidlichen Schlag des Schicksals erscheinen lassen. Das Forschungsprojekt «Sprachkompass» der Universität Bern, an dem ich mitarbeite, untersucht diese Sprachmuster und ihre Auswirkungen. In einem Teilprojekt hat der Sozialwissenschaftler Dirk von Schneidemesser vom Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit (RIFS) in Potsdam nun untersucht, wie häufig solche Muster verwendet werden. Er liess 229 Texte auswerten, in denen über Kollisionen zwischen Motorfahrzeugen und Zufussgehenden oder Velofahrenden berichtet wurde. Die Texte sind Zeitungen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz entnommen. Die Studie ist noch nicht veröffentlicht, aber ich darf hier einen ersten kurzen Einblick in die Zwischenergebnisse geben.
Das Ghost-Bike der Velofahrerin, deren Leben ein Unfall «gefordert» hat.
Unfälle «fordern» keine Toten
Fast überall tauchten Formulierungen auf, die das Opfer ins Zentrum stellen und die weiteren Akteure ausblendeten. Zum Beispiel: «71-Jährige angefahren» (69 % der Artikel). Oder: «Die Fussgängerin zog sich Verletzungen zu» (19 %). Zahlreiche Texte enthielten Hinweise, die dem Opfer die Verantwortung für die Kollision unterstellten, wie etwa «unvermittelt auf die Strasse gerannt» (11 %). So vorverurteilt wurde fast immer nur das Opfer. Nur in einem Prozent der Fälle wiesen die Texte die Schuld der unverletzten Person im Auto zu.
Umgekehrt war es mit entlastenden Zuschreibungen. In zwölf Prozent der Artikel wurde erklärt, eine Autofahrerin oder ein Autofahrer habe das Opfer «übersehen». Übersehen bedeutet auch: Die Augen waren offen und auf die Strasse gerichtet – und nicht etwa auf das Handy. Nur in einem Prozent der Texte kamen Zufussgehende vor, die ein Auto «übersehen» haben.
Wir schreiben so, weil wir denken, es sei neutral – ein Irrtum, wie die Inhaltsanalyse zeigt. Schlimmer noch: Wer solche Texte liest, sieht die Schuld eher beim Opfer und lehnt Investitionen in sichere Strassen eher ab. Auch das zeigen Studien.
Sprache beeinflusst das Denken. Das heisst aber auch: Wir können an der Sprache arbeiten, wenn wir unser Denken schärfen wollen. Wenn ihr den Titel dieser Kolumne lest und denkt, «Unfälle fordern keine Toten», ist das ein Anfang.
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