Gibt es den toten Winkel noch?

Gibt es den toten Winkel noch?

Was Velofahrende über den toten Winkel wissen müssen.

Der tote Winkel von LKWS gilt als gefährlich. Allerdings gibt es Stimmen, die sagen, den toten Winkel gäbe es gar nicht mehr. Wir sind der Sache nachgegangen.

«Es gibt keinen toten Winkel an schweren LKWs», schreibt die Sektion Berlin des Allgemeinen Deutschen Fahrrad Club (ADFC) auf ihrer Website. In einem vorschriftsgemäss ausgestatteten Lastwagen seien sechs Spiegel angebracht, die eine Sicht rund um den LKW ermöglichten. Wobei es ganz wesentlich für die Rundumsicht sei, dass die Spiegel richtig eingestellt seien. Bei Aufklärungsaktionen würden Weitwinkelspiegel häufig abgedeckt, damit es eben weiterhin einen toten Winkel gäbe.

Gibt es den toten Winkel noch?

Sergio Jörg, Lastwagenfahrlehrer bei der Fahrschule Koch, sagt: «Das stimmt so nicht. Den toten Winkel gibt es noch immer. Er ist dank der verschiedenen Spiegel bloss kleiner geworden.» Dass diese häufig nicht korrekt eingestellt seien, kann er sich nicht vorstellen: «Ein Lastwagen lässt sich so schon schlecht manövrieren, man stelle sich das mal mit falsch eingestellten Spiegeln vor.»

Sind die Gesetze in der Schweiz anders? Und soll man im Zweifelsfall dem sympathischen ADFC glauben – oder einem LKW-Fahrer, der vielleicht bloss die Interessen seiner Branche vertritt?

Toter Winkel bei Lastwagen, in dem Velofahrende in Gefahr schweben.

LKW ist nicht gleich LKW

Das Bundesamt für Strassen ASTRA schreibt auf Anfrage: «Die Schweiz hat 2009 die Vorschriften der EU übernommen, das heisst, es gelten in der Schweiz und in der EU die gleichen Bestimmungen.» Ausformuliert sind diese in der Verordnung über die technischen Anforderungen an Strassenfahrzeuge (VTS) unter dem Artikel 112. Dort heisst es, dass Lastwagen zwischen 3,5 und 12 Tonnen zusätzlich zu den normalen Rückspiegeln auf beiden Seiten mit einem grosswinkligen Aussenspiegel beziehungsweise einem Weitwinkelspiegel ausgestattet sein müssen. Ob ein Lastwagen auch einen Front- und Rampenspiegel haben muss, ist von seinem Gewicht beziehungsweise von der Höhe des Lastwagens abhängig. Ein Frontspiegel ist ab 7,5 Tonnen zwingend. Der Rampenspiegel ist für Lastwagen unter 7,5 Tonnen nur zwingend, wenn er in einer Höhe von mindestens zwei Metern über dem Boden angebracht werden kann.

Kurz: Lastwagen sind unterschiedlich. Und als Velofahrerin oder Velofahrer weiss man weder in der EU noch in der Schweiz, wie viele Spiegel der jeweilige Lastwagen nun hat, ausser man wüsste immer genau, um welchen Typ es sich gerade handelt.

Toter Winkel bei Lastwagen, in dem Velofahrende in Gefahr schweben.

Gefahr beim Rechtsabbiegen

Fahrlehrer Jörg führt weitere Faktoren auf, die beeinflussen, ob Velofahrende tatsächlich gesehen werden: «Wenn der Velofahrer genau in dem Moment vorbeiflitzt, in dem der Lastwagenfahrer den Blick von einem Spiegel zum anderen schwenkt, bleibt der Velofahrende unentdeckt.» Dieses Argument führt auch Toni Cimerman an, der zwecks Aufklärung Schulhäuser besucht und die Kinder in die Fahrerkabine einlädt. Cimerman führt den Zeitverlust beim Spiegelwechsel als Grund auf, warum man gewisse Spiegel für Schulungszwecke tatsächlich verdecke. Auch sei zu bedenken, dass sich nicht nur der Velofahrende bewege, sondern ebenso der Lastwagen.

LKWs sind vor allem eine Gefahr, wenn sie rechts abbiegen. «Jeder Fahrlehrer trichtert das seinen Schülern ein», versichert Fahrlehrer Jörg. Und überhaupt: «Niemand will in einen solchen Unfall verwickelt sein.» Zumal es sich meist um sehr schwere Unfälle handle, bei denen die Velofahrenden oder Zufussgehenden überrollt würden. «Wer sowas miterlebt, ist traumatisiert.» Sich aber nur auf rechts konzentrieren, ginge auch nicht: «Auch links kann etwas passieren, vor allem wenn der Lastwagen viel Überhang hat. Das ist der Teil hinter der Radachse, der beim Abbiegen auf die jeweils andere Seite ausschwenkt.» Und dann sei da ja auch noch zwingend der Blick in Fahrtrichtung.

LKWs sind eine Todesfalle

Fest steht: Lastwagen sind noch immer eine Todesfalle für Velofahrende. Pro Velo Zürich rät darum dringend davon ab, den toten Winkel als nicht mehr existent zu betrachten. Denn kommt es zu einem Unfall, ist es eigentlich egal, ob der Lastwagenfahrende vielleicht doch einfach «bloss» unaufmerksam war. Die schlimmsten Konsequenzen trägt in jedem Fall die oder der Velofahrende.

Nun gibt es sogar Stimmen, die fordern, der Begriff «toter Winkel» sei nicht mehr zu verwenden, weil er den Opfern die Schuld zuschiebe. Im Stil von: «Das passiert halt, wenn man am falschen Ort steht.»

Toter Winkel bei Lastwagen, wo Velofahrende in Gefahr schweben.

Warum wir vom toten Winkel sprechen

Diesbezüglich halten wir es wie mit dem Begriff Rassismus. Obwohl sich das Wort von Rasse ableitet und es keine Menschenrassen gibt, beschreibt der Begriff Rassismus den Hass auf Menschen anderer Hautfarbe am treffendsten. Rassismus ist ein falscher aber gängiger Begriff, bei dem jeder weiss, um was es geht.

Der tote Winkel mag in der Theorie ausgemerzt sein, aber es ist wichtig, dass wir über ihn reden. Weil er, abhängig vom jeweiligen Fahrzeugtyp und der konkreten Situation, noch immer existiert. Dabei von Risikozone zu sprechen, wie es etwa der Verein Changing City vorschlägt, ist keine Lösung. Das klingt einfach zu harmlos und zu unspezifisch.

Trotzdem wird diese Warnung nie alle Velofahrenden erreichen. Daher lassen sich Unfälle im toten Winkel eigentlich nur durch eine Massnahme wirklich vermeiden: Die Infrastruktur für Velofahrende muss besser werden. So braucht es gerade bei Abbiegesituationen genügend lange Velosäcke, damit sich Velofahrende deutlich vor dem motorisierten Verkehr positionieren können. Ideal wären natürlich möglichst viele Velowege, die getrennt von den übrigen Fahrspuren verlaufen. Viel bringen würden aber auch schon Lichtanlagen, die Velofahrende vor der allgemeinen Grünphase starten lassen, sogenanntes Vorgrün. Und wo es keine guten Alternativen gibt, braucht es Abbiegeverbote für LKWs. Für solche Lösungen setzt sich Pro Velo auf allen Ebenen ein.

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Andrea Freiermuth

Leiterin Kommunikation & Events bei Pro Velo Kanton Zürich

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